Neulich beim Rollenspiel

Wissenschaftliches Tagebuch von Aiden Cottlestone, Amordi, 3. Secundus 1668

Heute habe ich endlich die montaignischen Hauptstadt Charouse erreicht, welche ich zuletzt vor vier Jahren gesehen habe. Allerdings muss ich eingestehen, dass sich die Veränderungen in engen Grenzen halten: Immer noch dominiert im inneren Bereich der Stadt Prunk und Protz, während die Vororte von Unrat, Bettlern und üblen Gerüchen geprägt sind. Mittlerweile werden die meisten Kirchen als Speicher genutzt, wie an den allgegenwärtigen Lastenkränen zu bemerken ist. Ich kann mich - wie bei meinem letzten Besuch - des Gefühls nicht erwehren, dass Charouse eine Art lebendiges Geschwür ist, welches sich immer tiefer in die liebliche Landschaft des westthéanischen Herzlandes hineinfrisst. Dennoch scheint der Moloch eine große Anziehungskraft auf die Menschen auszuüben, denn die Stadt wächst stetig weiter. Ich vermute, dies hängt auch mit den nahezu frivol hohen Steuern zusammen, welche der Kaiser zur Finanzierung seiner Feldzüge erhebt. Auf dem Lande gibt es für den braven Bauersmann kein Entrinnen vor den Schergen der Obrigkeit, in der Stadt erscheint es mir dagegen ein Leichtes für die Leute zu sein, in der stinkenden Masse unterzugehen und sich so um die Zahlung zu drücken.

Ich verfasse diese Zeilen übrigens nicht im Kontor Hallstein & Jorgensen, wo ich mich erst am morgigen Tage zur Übergabe meines Gepäckstückes einfinden werde, sondern im Stadtpalais des Comte Rénard Louis de la Roque, dessen Bekanntschaft ich am heutigen Tage auf gänzlich ungewöhnliche Art gemacht habe: Einige Stunden vor Charouse hörte ich, stadtwärts reitend, einen Hilferuf an mein Ohr dringen und gab stehenden Fußes meiner braven Emily die Sporen, um der offensichtlich weiblichen Bedürftigen zu Hilfe zu eilen. Tatsächlich traf ich an einer nahen Lichtung auf eine Kutsche, die anscheinend von mehreren Strauchdieben bedrängt wurde. Diesen gegenüber standen neben einem Reiter, der sich später als der Comte de la Roque herausstellen sollte, auch ein offensichtlich montaignischer Landadliger (oder Soldat, ich bin mir dessen noch nicht ganz sicher) sowie ein eindeutig ussurischer Zeitgenosse.

Letzterer bedient sich im Kampfe einer Axt, wie ich sie noch nicht gesehen habe. Sie ist fast so groß wie ich selbst, reicht dem Ussurer aber nur bis knapp unter die Schulter und kann mit ihrem breiten Blatt nicht seinen Oberkörper verdecken - was zugleich eine treffende Beschreibung seiner imposanten Erscheinung darstellt. Ich bedrohte die Angreifer mit meiner - freilich nicht geladenen - Pistole und unter gemeinsamen Mühen konnten wir die Gewalttäter bezwingen, wobei der Ussurer sich bei einem gewaltigen Kopfstoß gegen zwei der Schurken eine nicht unbeträchtliche Platzwunde, verbunden mit einer üblen Schwellung der Stirn und oberen Augenpartien, zuzog. Diese schien ihn aber nicht im Mindesten zu beunruhigen, vielmehr lehnte er jede Hilfe ab und war nur mühsam vom Comte dazu zu bewegen, die Reise nach Charouse gemeinsam fortzusetzen.

Während des Ritts erfuhr ich, dass der Ussurer - Gregor irgendwas ist sein Name - auf dem Weg in seine Botschaft war und ist. Dies wiederum impliziert auch bei einem Ussurer einen gewissen Grad an Bildung, welchen dieser Gregor aber wohl bewusst versteckt. Der Edelmann - ebenfalls mit Vornamen Grégoir getauft (ob die beiden wohl vom sprachlichen Ursprung ihrer Namen und dessen Bedeutung wissen? Gregoreo bedeutet im Ur-Théanischen schließlich "auf der Hut sein" - und das waren sie am heutigen Tage sicher beide!) - befindet sich auf einem mir bisher noch unbekanntem Reiseweg. Bedenkt man aber die Fabulierlust der Montaigner, so kann es sich nur noch um wenige Tage handeln, bis ich seine Lebensgeschichte inklusive verschiedenster Heldentaten im Schlafe herbeten werde können. Er hat übrigens einen Diener bei sich, der aber ziemlich faul zu sein scheint.

Gänzlich im Hintergrund verborgen blieb mir die in der vierspännigen Kutsche befindliche Dame, obwohl ich mir die größte Mühe gab, einen Blick auf sie zu erhaschen. Auf dem Domplatz im Inneren Charouses angekommen, entlohnte sie lediglich jeden von uns Dreien mit einem Sol und entschwand unbesehen in Richtung des kaiserlichen Palastes. Ein Sol also, umgerechnet sechs Gulden und also fast ein Drittel Pfund. Viel Geld für mich, die beiden anderen schien aber es weniger zu beeindrucken. Auch der Comte zeigte sich endlich dankbar für unsere mutige Hilfe und ließ es sich nicht nehmen, uns als Gäste in sein Stadtpalais einzuladen. Dort angekommen stellte er uns zunächst seine bezaubernde junge Enkelin Claire de la Roque vor, um uns dann zu einem vorzüglichen Dîner zu bitten. Nachdem sich seine Enkelin verabschiedet hatte, lud er uns noch zu einem Abend im Bobinard ein, zu dem wir uns gleich auf den Weg machen werden. Ich werde in meinem nächsten Eintrag davon berichten.


Sprüche und Übersicht unserer Rollenspiel-Runden
Homepage Stefan Bohnsack, 2008