Neulich beim Rollenspiel

Brief von Jésus an Félipe, 22. Sextus 1668

22. Sextus 1668

Mein lieber Félipe,

zeige keinem diesen Brief. Es ist sehr wahrscheinlich, dass ich Dich in ein oder zwei Wochen mit ein paar Freunden besuchen kommen werde. Es ist nicht sicher wann und für wie lange, aber ich bitte Dich um die Gleiche Art der Gastfreundschaft, wie Du sie mir schon vor zehn Jahren erwiesen hast. Wenn Du mir sagen kannst, wie es zur Zeit im Haushalt des Dons aussieht, wäre ich Dir sehr dankbar. Ich muss ihn sprechen. Gibt es Neuigkeiten von Bartholomé? Ich muss ihn sprechen. Und Enrique am besten auch. Wo ist er eigentlich zur Zeit?

Ich bin in Charouse, wo ich eine Gruppe frommer Leute gefunden habe, die unerkannt aber auch unbehelligt dem Glauben nachgehen kann. Ausserdem habe ich hier so etwas wie eine Anstellung bei einem wichtigen Mann. Charouse ist nicht schlechter, als Du gehört hast, aber auch nur ein kleines bißchen besser.

Und für Deine Kinder habe ich wieder ein Märchen. Diesmal spielt es in Eisen und Montaigne: Vier Caballeros des Glücks aus aller Herren Länder wollten einen Berg bezwingen, der noch nie bezwungen worden ist. Sie suchten und fanden diesen Berg in einem armen, vom Krieg zerstörten Land. Die Leute schauten weg, als man sie nach dem Weg fragte und gaben nur schüchtern Auskunft. Auf ihrem Weg trafen sie aber nicht nur Menschen. In den Jahren des Krieges und des Hungers hatten manche Sünder die schlimmste Tat begangen, die ein Verhungernder begehen kann: sie hatten sich am Fleische ihrer Mitmenschen gelabt und damit ihre Seelen Legion verschrieben. Und dieser hatte sie in grauenhafte Ungeheuer verwandelt, die des Nachts die leeren Straßen ihres zerstörten Landes nach Allem, Was Essbar Ist, abzusuchen. Nun waren auch unsere Caballeros des Glücks in ihren Augen essbar. Diese hatten eine verlassene Stadt am Fuße des Berges, den sie erklimmen wollten, gefunden und dort ihr Lager aufgeschlagen. Als sie des Nachts von den Unholden überfallen wurden und sich mit Degen und Pistole ihres Lebens erwehren mussten, da hörten sie in der Ferne Schüsse. Stechend und Schlagend kämpften sie sich durch die Ruinen, bis sie die Herkunft der Schüsse ausmachen konnten. Und hier trafen sie auf die frommen Brüder und Schwestern, die sich im Gedenken an die armen Ritter von Crieux hier versammelt hatten, um am Fuße des mächtigsten Berges der Welt ein Leben zu führen, der dem Kampf des Glaubens gegen die Finsternis gewidmet ist. „Wir kennen eure Queste und wir heißen sie gut!“ begrüßten sie die Caballeros in gebildeter Sprache. „Wir wollen mit euch gehen, denn auf der anderen Seite des Berges lebt ein Drache, der sich in einer heiligen Stätte eingnistet hat. Und wir müssen ihn besiegen!“ Da sagten die Caballeros, dass sie gerne den Ruhm ihrer Queste mit ihnen teilen wollten, wenn es auch umgekehrt geschehe.

Gemeinsam machten sie sich also an den gefährlichen Aufstieg. Und je höher sie kamen, desto kälter wurde es und ihre Tiere erfroren und ihre Zelte gingen verloren. Da sagte einer der Caballeros, der beste Waidmann und Wanderer von ihnen: „Lasst uns ein Haus beuen aus Schnee und Eis. Darin machen wir uns ein Feuer und stärken uns, dann können wir weiterziehen.“ Die anderen aber sagten: „Wir haben nichts mehr zu essen und sollen uns stärken? Und wir sollen einziehen in ein Haus aus Schnee, wie die Wiesel und Hasen?“ Das sagte ihr Gefährte: „Es gibt ganze Städte aus solchen Häusern, droben im Norden. Und Väterchen Frost wohnt dort behaglich mit seiner Schneekönigin und ihrem Volk aus Trollen. Was für sie gut ist, soll auch uns reichen! Iglu nennt man diese Häuser und ich will euch zeigen, wie mann sie baut. Auch ist es so kalt, dass das Fleich der toten Tiere nicht verdorben ist. Ihr seht: wir haben auch reichlich zu essen!“ Und wie er es sagte, so geschah es auch und sie bezwangen gemeinsam den Berg.

Dann kamen sie an die heilige Stätte, in der ein böser Drache sich eingenistet hatte. Und mit ihm waren auch andere dort, nämlich böse Männer und Frauen, die ihn als Gott verehrten und ihm in Schwarzen Messen Blutopfer darbrachten und so die heilige Stätte besudelt und entweiht hatten. Da nahmen die Caballeros und die frommen Brüder und Schwestern ihre Waffen und eroberten von den Bösewichten alle missbrauchten Reliquien und Altäre zurück. Doch der Drache hatte den Kampf bemerkt und wollte seine riesige Gestalt auf unsere Helden werfen und sie mit seinem scheunengroßen Maul verschlingen. Und er stank furchtbar dabei. Doch gibt es in alten Höhlen, denn um nichts anderes handelte es sich bei der heiligen Stätte, immer große Zapfen, die von der Decke hängen und von Gebildeten "Stalagmiten" genannt werden (vielleicht erklärst Du Deinen Kindern den Unterschied zwischen Stalagmiten und Stalagtiten, dann lernen sie noch was dabei...). Derjenige unserer Caballeros, der am geschicktesten mit der Pistole war, hatte einen Plan. Als die Bestie auf sie zukroch, da lockten sie es durch die Gänge, bis der größte und schwerste Stalagmit direkt über dem Kopf des Drachen hing. Dann schoß der Pistolenschütze. Gegen die Decke. „Warum vergeudest Du deine Kugel?“ Fragten ihn die anderen. Da fiel der Stalagmit herab und durchbohrte Schädel und Hirn des Untiers. Und der Pistolero lächelte zur Antwort.

Nun freuten sich alle und feierten ihren Sieg. Aber den frommen Brüdern und Schwestern wollten die Sorgen nicht aus den Gesichtern schwinden. „Warum schaut ihr so betrübt, obwohl wir doch einen so großen Sieg errungn haben?“ „Weil der Drache finstere Jünger hatte, die durch die Lande gezogen sein müssen. Und wir kennen die Reliquien, die der Drache geraubt hat und nicht alle sind wieder in unserem Besitz. Es muss anderswo noch Jünger des Drachen geben und wir wissen nicht, wo wir suchen sollen.“ Die Caballeros bedauerten die frommen Brüder und Schwester sehr und versprachen Hilfe. „Wenn wir irgenwo nach ihnen suchen wollen, sollten wir in der Universität von Charouse beginnen. Dort sammelt man alles Wissen der Welt und kümmert sich nicht darum, ob das Wissen Theus oder Legion gehört. Lasst uns nach Charouse gehen!“ Sagte der Klügste der Caballeros.

In Charouse waren die Caballeros zu Gast bei einem guten Freund. Dieser sagte ihnen, dass der König keine Eintrittskarten für die Universität mehr verkaufen wolle, denn das gesammelte Wissen der Welt sei doch zu gefährlich, um es allen zugänglich zu machen. Da sagte der Caballero, der den König am wenigsten mochte: „Der König liebt Kunst und wird alles dafür geben, seine Bildersammlung zu beschützen. Lasst uns Feuer bei seiner Kunstsammlung legen. Während alle mit Löschen beschäftigt sind, schleichen wir uns in die Universität und suchen nach Schriften über die Jünger des Drachen!“ Die anderen stimmten ihm zu, stellten aber die Bedingung, dass den wertvollen Bildern nichts geschehen dürfe. Darauf einigten sich die Caballeros und so geschah es auch. Und siehe da: sie fanden tatsächlich etwas in der Universität von Charouse. Das ist aber eine andere Geschichte.

Ich hoffe, Deine Kinder haben Freude an diesem Märchen. Natürlich will ich ihnen keine Flausen in den Kopf setzen und Du musst ihnen sagen, dass das alles nur eine Geschichte ist. So Unwahr, wie wenn jemand behauptet, nach dem zweiten Kreuzzug habe es einen Dritten gegeben. Aber Iglus gibt es nunmal wirklich, Stalagmiten ebenso und das mit der Universität von Charouse ist ja eine Geschichte, deren wahren Kern sie sicher ihrgendwann verstehen werden.

Ich hoffe, wir sehen uns bald. Grüße Deine Familie von
Deinem Jésus.

P.S. Ich bitte Dich, meine Freunde auch dann bei Dir aufzunehmen, wenn ich nicht bei ihnen sein sollte. Du wirst sie erstaunlich finden, wenngleich nicht immer in allem erfreulich. Du wirst sie nicht kennen, aber sie werden sie Dir zu erkennen geben.

P.P.S. Hüte Dich vor alten Freunden.


Sprüche und Übersicht unserer Rollenspiel-Runden
Homepage Stefan Bohnsack, 2008